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Der Volksaufstand des 17. Juni 1953 und die Ereignisse in der Uckermark

Jürgen Theil – Prenzlau 

Festvortrag zur Gedenkveranstaltung am 17. Juni 2022

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Bürgermeister Herr Sommer, werte Gäste,

wir sind heute hier zusammengekommen, um an ein Ereignis zu erinnern, das auf den Tag genau 69 Jahre zurückliegt. Ein Ereignis aus der Zeit des Kalten Krieges und der Spaltung Deutschlands, das als erstes großes Aufbegehren gegen Unterdrückung, Verfolgung und Bevormundung in Osteuropa angesehen werden kann. Gleichzeitig ist es aber auch ein Ereignis, das uns angesichts aktueller Bilder, die wir tagtäglich von der russischen Invasion und russischen Panzern aus der Ukraine erhalten, daran erinnert, dass die alte Sowjetunion zwar zerfallen ist, die Schrecken, die von dieser ehemaligen Hegemonialmacht einmal ausgingen, noch sehr lebendig sind, nachdem Putin seine Machtansprüche neu definiert hat und er tagtäglich unter Beweis stellt, was er von Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie hält.
Während der 17. Juni in der Bundesrepublik Deutschland 36 Jahre lang als „Tag der Einheit“ begangen wurde, bezeichneten ihn die Machthaber in der DDR als „konterrevolutionären und faschistischen Putschversuch“, der vom Westen gesteuert wurde.
Mehr als eine Million Bürger aus fast allen Schichten und Gruppierungen, darunter selbst SED-Mitglieder, Angehöriger der Sicherheitsorgane sowie Jugendliche und Frauen setzten sich damals in mehr als 700 Orten der DDR für ihre Rechte, für Freiheit und Demokratie ein. Es war ein Aufstand des ganzen Volkes, der von russischen Panzern niedergewälzt wurde.

Doch der Aufstand hatte eine Vorgeschichte:

Die von der SED dominierte DDR ist zu Beginn der 1950er Jahre in eine schwere Krise geraten. Misswirtschaft und Disproportionen in der Industrie sowie die restriktiven Maßnahmen der Regierung, die im Zusammenhang mit der 2. Parteikonferenz der SED (1952) zum „planmäßiger Aufbau des Sozialismus“ führen sollten, brachten eine nachhaltige Verschlechterung der ohnehin schon mangelhaften Versorgungslage, zu der auch die hohen Reparationsforderungen der Sowjetunion beigetragen hatten. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung wuchs durch die Einführung der Normerhöhungen um 10 Prozent schließlich zu einer gewaltigen Protestbewegung an, die sich zu einem machtvollen Volksaufstand ausweitete, dessen Auswirkungen auch in der Stadt Prenzlau spürbar waren. Diese Entwicklung konnte auch der von der Sowjetunion verordnete „Neue Kurs“, der einen langsameren Weg zum Sozialismus vorschrieb, nicht mehr aufhalten.

Von August 1952 bis Ende Januar 1953 kam es im Kreis Prenzlau zu politisch motivierten Gerichtsverfahren gegen Bürger aus allen Schichten. So wurde z. B. ein Bauer zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt und enteignet, weil er aus Krankheitsgründen das Soll nicht erfüllt hatte.1 Ähnliche Fälle gab es auch in den anderen Altkreisen der Uckermark, wie das Beispiel des Bauern Richard Mohr aus Wichmannsdorf (Kreis Templin) belegt.2 In Angermünde meinte ein SED-Genosse nach der 2. Parteikonferenz: „Jetzt haben wir endlich die Diktatur des Proletariats. Wer jetzt nicht mitmacht, wird kurzerhand umgelegt. Auf den Tag habe ich schon lange gewartet.“3 Immer mehr Werktätige flüchteten vor den ständig größer werdenden Repressalien in den Westen, wodurch sich die ohnehin schon prekäre Wirtschaftslage noch weiter verschlechterte. Und dennoch wurde in einem internen Wirtschaftsbericht der Stadt Prenzlau eingeschätzt: „Zusammenfassend kann man sagen, dass die Steuermoral der Bevölkerung im Jahre 1952 gut war und die finanzielle Lage des Rates der Stadt gesichert und gesund ist.“4

Doch selbst der Chef des Stabes des KVP in Prenzlau sprach im April 1953 von einer großen Anzahl besonderer Vorkommnisse und zahlreicher unerlaubter Entfernungen von der Truppe.5

Am 3. Juni 1953 berichtete dann die Prenzlauer Lokalzeitung über zwei Schauprozesse gegen die „Wirtschaftsverbrecher Otto Meißner und Hermann Schuhmacher“. Der Prenzlauer Gastwirt Meißner wurde zu sechs Jahren Zuchthaus und Vermögenseinziehung verurteilt, weil er u. a. 2500 DM nach West-Berlin ausführte, um dort eine Kühlschrankreparatur zu bezahlen. „In seinem Keller stapelte er Unmengen leerer Flaschen, statt diese an die Wirtschaft zurückzuführen.“6

Der Prenzlauer Gastwirt Schuhmacher wurde wegen „Spekulation“ zu einer Haftstrafe von viereinhalb Jahren und Vermögenseinziehung verurteilt. „Im Jahre 1950 kaufte er von einem Siedler 20 Ztr. Kartoffeln ohne Bezugsberechtigung, die er für sein Geschäft verarbeiten ließ. Seit dem Jahre 1952 kaufte nun Schuhmacher von der Fischwirtschaftsgenossenschaft Prenzlau Aal zu HO-Preisen, ohne jedoch mit der HO einen Provisionsvertrag abgeschlossen zu haben. Dieser wurde in der Gastwirtschaft verarbeitet und billiger verkauft als in den HO-Gaststätten.“7

Der Bäcker Hans-Georg Krage aus Nieden wurde verhaftet, weil er in Westberlin den Zündmagneten für sein Motorrad reparieren ließ. Das Urteil lautete ein Jahr und neun Monate Zuchthaus. Nach seiner Entlassung war auch er nach Westberlin geflüchtet, wo er am 17. Juni 1953 über das Radio vom Volksaufstand erfuhr.8

Wenn man derartige Fälle als Wirtschaftsdelikte ahndete und öffentlich darüber berichtete, kann man sich vorstellen, wie groß die Angst in breiten Teilen der Bevölkerung gewesen sein muss. Die Ablehnung der sowjetischen Besatzungsmacht, die durch hohe Reparationen und Willkürjustiz einen entscheidenden Anteil an der sich zuspitzenden Krise hatte, war groß.

Und dennoch versammelte sich am 9. März 1953 eine größere Menschenmenge auf dem mit Stalinbildern geschmückten Soldatenfriedhof am Ehrenmal im Stadtpark, um von dem wenige Tage zuvor verstorbenen Diktator Stalin Abschied zu nehmen.

Während bald darauf in Berlin und anderen Großstädten gegen die zuvor beschlossenen Normerhöhungen und die schlechte Versorgungslage gestreikt wurde, passierte in Prenzlau relativ wenig.9 Doch auch hier wurde am 17. Juni um 14 Uhr der Ausnahmezustand erklärt.10 Auf den an den Litfaßsäulen befestigten Plakaten forderte man alle Bürger dazu auf, nach acht Uhr ihre Wohnungen nicht mehr zu verlassen.

Gebannt verfolgten diejenigen, die die Möglichkeit dazu hatten, die Geschehnisse über das Radio bzw. den Sender RIAS. Ein Augenzeuge, der damals in Prenzlau als Zimmererlehrling bei der Bau-Union Nordost tätig war, erinnert sich noch sehr gut an die Ereignisse dieser Tage. Er arbeitete auf einer größeren Wohnungsbaustelle der im Aufbau befindlichen bewaffneten Organe in Prenzlau im so genannten Millionenviertel in der Angermünder Straße zusammen mit etwa 100 Arbeitern, die überwiegend aus südlichen Bezirken der Republik stammten. Es sei über die Forderungen der Arbeiter nach mehr Lohn und die Rücknahme der Arbeitsnormerhöhung diskutiert worden. Um ihren Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen, gab es auch Arbeitsniederlegungen. Bald darauf wurden Strohballen angezündet. Schließlich wurde der Ausnahmezustand verkündet, dessen Einhaltung auch in Prenzlau durch die Sowjetarmee überwacht wurde. Es war verboten, mit mehr als drei Personen in einer Gruppe zu stehen oder die Wohnung von 20.00 Uhr bis 6.00 Uhr zu verlassen. Das Ausgangsverbot wurde strengstens von fahrenden Patrouillen der sowjetischen Besatzungstruppe überwacht, die mit Panzerspähwagen und Maschinengewehren ausgerüstet waren. „Jeder hatte Angst, geschnappt und bestraft zu werden“, wie ein Zeitzeuge berichtet, der sich an diesem Abend nach 20.00 Uhr auf Schleichwegen durch die Prenzlauer Straßen kämpfte, um seine Wohnung in der Parkstraße (heutige Rosa-Luxemburg-Straße) zu erreichen.11

Am 27. Juni 1953 berichtete dann die Bezirksbehörde der Volkspolizei Neubrandenburg, dass sich am 17. Juni, gegen 19 Uhr 40 Arbeiter im Kulturraum der Bau-Union Nordost versammelt hätten, um dort den Sender Rias zu hören. Als sich ein Abschnittsbevollmächtigter in den Kulturraum begab, um das Radio einzuziehen, wurde er mit derben Worten und Androhung physischer Gewalt dazu aufgefordert, den Raum unverzüglich zu verlassen. Später wurde der Maurerbrigadier Alfred N. als Rädelsführer ermittelt und verhaftet.12

Ein Bauarbeiter aus Prenzlau forderte sogar, dass Grotewohl und Ulbricht sich die Brust waschen und sich zum Erschießen fertig machen sollten. 13

Andere Bauarbeiter aus Prenzlau waren auf der Großbaustelle der Berliner Stalinallee eingesetzt. So auch der damals 17jährige A. R., der seine Maurerlehre bei der Bau-Union Nordost absolviert hatte und von 1953 bis 1954 als Maurer in Berlin arbeitete. Auf die Ereignisse von damals befragt schildert der Prenzlauer die Situation wie folgt:

„In meiner Brigade arbeiteten sechs Bauarbeiter, davon drei aus Prenzlau. Wir legten gemeinsam mit den anderen Bauarbeitern die Arbeit nieder und gingen durch die Friedrichstraße. Am Straßenrand waren sowjetische Panzer aufgefahren. Durch KVP- und Polizeieinheiten wurden wir von der Straße getrieben und verhaftet und zur S-Bahnstation (Zentralviehhof) gebracht, wo man uns zusammenpferchte, die Schnürsenkel und Gürtel abnahm und am nächsten Tag vernahm. Nachdem wir uns bereit erklärt hatten, wieder an die Arbeit zu gehen, wurden wir für drei Tage in Baracken am Alexanderplatz untergebracht, danach haben wir unsere Arbeit wieder aufgenommen.“14

Vom 18. Juni bis 12. August 1953 waren auch KVP-Bereitschaftskräfte aus Prenzlau in Berlin im Einsatz. Viele von ihnen standen angesichts der spürbaren Ablehnung ihres Einsatzes unter enormen Druck. So wurden allein aus den Reihen der Bereitschaft Prenzlau vier Suizidversuche gemeldet, wie aus internen Unterlagen der KVP hervorgeht.15 In den letzten Einsatztagen flüchteten mehrere KVP-Angehörige nach West-Berlin. Die Prenzlauer Volkspolizei-Bereitschaft berichtet von einer Gemeinschaftsflucht eines ganzen Kommandos am Potsdamer Platz, darunter waren 24 KVP-Mitglieder aus Prenzlau.16

In Brüssow wurde am 21. Juni 1953 ein 30jähriger Hochbauarbeiter verhaftet und zu einer eineinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, weil er am 17. Juni an einer Arbeitsniederlegung auf der Großbaustelle in Groß Dölln17 beteiligt war und später in einer HO-Gaststätte in Brüssow einen Helfer der Volkspolizei provoziert habe. Weiterhin hätte er am 19.6.1953 versucht, „durch provokatorische Reden die Bevölkerung und die Arbeiter von Brüssow zum Streik aufzuwiegeln und hat sich damit Verbrechen nach Artikel 6 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik schuldig gemacht.“18

Im Zusammenhang mit den Arbeitsniederlegungen auf Baustelle Groß Dölln, wo gleich mehrere hundert Arbeiter19 streikten, gab es relativ viele Verurteilungen von Bauarbeitern und anderen Werktätigen, die sich mit den Streikenden in Berlin solidarisch erklärten und freie gesamtdeutsche Wahlen, eine Herabsetzung der Normen und bessere Lebensverhältnisse einforderten.20 Sehr auffällig ist in den Akten, dass sich die Beschuldigten sehr stark selbst belasteten, was Rückschlüsse auf die Verhörpraxis und die offensichtlich fingierte Protokollführung erlaubt. Wie sonst ist z. B. die folgende Antwort aus einem Vernehmungsprotokoll vom 8. Juli 1953 zu erklären:

„Ich habe die Hetzmeldungen und Verleumdungen weitergegeben, indem ich unter den Kollegen verbreitete: In Berlin ist die Volkspolizei aufmarschiert und schießt auf die Arbeiter, das in Berlin viele Betriebe streiken und an den Zonengrenzen die sowjetischen Panzer aufgefahren sind. (…)“21

Bemerkenswerter Weise hat das Kreisgericht in Neustrelitz später einige Strafverfahren eingestellt und Haftbefehle aufgehoben. So auch den gegen einen 27jährigen Autolackierer, der zuvor am 18. Juni 1953 in Groß Dölln „an einer Provokation führend teilgenommen“ hatte, indem er zum Streik aufrief.22 Auch der ursprünglich als Rädelsführer festgenommene Schlosser Ludwig Jäger kam nach wenigen Tagen Untersuchungshaft wieder frei.23

Der gemäß Artikel 6 der Verfassung zu zwei Jahren Haft verurteilte 22jährige Landarbeiter H. K. aus Eickstedt (Kreis Prenzlau) habe am 19. Juli 1953 die „volksdemokratische Ordnung angegriffen“ indem er Folgendes äußerte:

„Die Volkspolizisten sind Banditen und zu faul zum Arbeiten. Der Vorsitzende der LPG ist ein Lump und Verbrecher. Die Regierung der DDR besteht aus Bonzen, die die Arbeiter unterdrücken und ausbeuten. Wenn ein zweiter 17.6.1953 sich wiederholen würde, so würde er selbst einen Bauernaufstand organisieren.“24

In der Stellungnahme zur Schuldfrage hieß es später:
„Der Beschuldigte (…) wurde durch das Abhören der Radiohetzsendungen zum Gegner der Deutschen Demokratischen Republik. Er unterstützte die Anstrengungen der imperialistischen Kriegstreiber gegen das Lager der Demokratie und des Sozialismus einen Kampf zu führen, welcher in dem Ausbruch des III. Weltkrieges enden soll. Mit seinen Hetzreden versuchte er, die Bevölkerung und insbesondere die Bauern der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gegen unsere demokratische Staatsmacht aufzuwiegeln. Seine Hetzreden sollten das Vertrauen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik bei der Bevölkerung schmähen und den neuen Kurs, welchen unsere Regierung eingeschlagen hat, herabwürdigen. Er unterstützte die von amerikanischen Imperialisten in Deutschland am 17. Juni 1953 inszenierte Provokation, welche das Ziel verfolgte, unsere Regierung zu stürzen und die alten kapitalistischen Machtverhältnisse wieder herzustellen. Unsere Landbevölkerung und besonders unsere LPG-Bauern stehen im harten Kampf, um unsere Bevölkerung die Ernährung zu sichern. (…) Sie verlangen mit Recht von unserer Staatsmacht, dass sie ihre Arbeit in Ruhe und Frieden ausführen können, deshalb gehört allen Verbrechern, welche versuchen, ihre friedliche Arbeit zu stören, die verdiente Strafe durch unsere demokratische Justiz.“25

Am 22. Juli 1953 wurde auch der 54jährige Maurer Paul Franz in Kuhz (Kreis Templin) verhaftet, weil er am 8. Juli in Boitzenburg Arbeiter seines Betriebes zum Sturz der Regierung aufgerufen hatte. Bei einer späteren Vernehmung erklärte er:

„Soweit wie wir heute sind, hätte es niemals kommen dürfen. Warum hat die Regierung dem Sohn (befohlen) auf den Vater, dem Bruder auf den Bruder schießen zu lassen? Sie sieht doch, dass sie das Vertrauen des Volkes nicht mehr hat. Warum tritt die Regierung nicht zurück, warum werden die Beschuldigten nicht zur Rechenschaft gezogen? Sie ist doch überhaupt keine Volksregierung mehr, man hat sie uns doch aufgezwungen. Fort mit dieser Regierung! Wir fordern freie Wahlen, wo wir uns selber die Regierung wählen werden, die unsere Interessen vertritt. Die Regierung ist ein Werkzeug Russlands und hat sich als Steigbügelhalter Stalins hingegeben. (…) Wir brauchen keinen asiatischen Bolschewismus und keine aufgezwungene Freundschaft mit der Sowjetunion. (…)“26 Auf der Grundlage seiner eigenen Einlassungen wurde er später angeklagt „die demokratische Ordnung und den Frieden des deutschen Volkes und der Welt gefährdet zu haben, indem er Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen, Organisationen und führende Politiker betrieb, Völkerhass bekundete sowie damit Propaganda für den Nationalsozialismus betrieb und tendenziöse Gerüchte erfand und verbreitete.“ Nur wenige Wochen nach dem Prozess und der Verurteilung zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe haben 108 mutige Bürger von Kuhz und Umgebung in einem Brief an die Staatsanwaltschaft vergeblich die Freilassung von Paul Franz gefordert. Auch das von der Ehefrau des Verurteilten im Frühjahr 1954 beim Staatspräsidenten gestellte Gnadengesuch wurde abgelehnt.27

Ein ähnlicher Fall ist aus dem uckermärkischen Blumenhagen bei Strasburg überliefert, wo ein 40-jähriger Sattlermeister die Dorfbewohner aufforderte in einen Ablieferungsstreik zu treten und keine Milch mehr an die Sammelstelle zu liefern. Auch hier hatten sich zahlreiche Bürger und Vertreter von verschiedenen Parteien und Massenorganisationen vergeblich für die sofortige Freilassung des zu anderthalb Jahren Gefängnisstrafe verurteilen Sattlermeisters, der zugleich auch Vorsitzender der Nationalen Front im Dorf war, eingesetzt.28

Bald nach dem Volksaufstand wandte sich auch der Prenzlauer Kreisverband der LDPD in einem Schreiben erfolglos an ihren stellvertretenden Parteivorsitzenden und Volkskammer-Präsidenten Johannes Dieckmann: „Unsere Mitglieder sind sehr empört darüber, dass Schuhmacher gegen alles Recht und entgegen den Versprechungen der Regierung gefangen gehalten wird und verweigern die weitere Beitragszahlung. Auch ein Teil unserer Parteifunktionäre erklären, dass sie ihre Ämter in Partei und öffentlichen Verwaltungen zur Verfügung stellen werden, wenn Schumacher nicht in Kürze freigelassen wird.“29

Etwa zeitgleich berichtete das Neue Deutschland, das Zentralorgan der SED, über Anwerbungsversuche des amerikanischen Geheimdienstes in Prenzlau, wo die HO-Angestellte Edeltraut Jahn angeblich als Agentin angeworben werden sollte. Dies passte natürlich ins Bild, denn der Volksaufstand in der DDR war aus SED-Sicht natürlich ein konterrevolutionärer und faschistischer Putschversuch, der von ausländischen Agenten gesteuert wurde.

Auf der Prenzlauer Kreisvorstandssitzung der NDPD wurde auf das Problem hingewiesen, dass die Blockparteien zu stark im Fahrwasser der SED fahren würden und bislang zu wenig Rückrat gezeigt hätten.30

Auch in den Folgejahren gab es noch weitere Verhaftungen in der Uckermark, die mit dem 17. Juni in Verbindung standen. So wurde im September 1954 in Schmachtenhagen (Kreis Prenzlau) der Maurer und Neubauer Josef Fröhlich festgenommen und verurteilt, weil er seit 1953 fortlaufend gegen die LPG sowie die Deutsche Demokratische Republik und die Funktionäre der Partei gehetzt habe. So soll er u. a. am 17. Juni 1953 auf einer Parteiversammlung der LPG gesagt haben, dass Walter Ulbricht ein Verräter sei. „Desweiteren hetzte er, in Berlin rollen schon die Panzer, in kurzer Zeit ist der ganze Spuk vorbei und die Regierung und ihr werdet aufgehängt.“31 Das Urteil lautete schließlich: „Der Angeklagte wird wegen Verbrechens gem. Art. 6 der Verfassung der DDR in Verbindung mit der Kontrollratsdirektive 38 Abschn. II Art. III A III zu einer Zuchthausstrafe von 2 – zwei – Jahren und 6 – sechs – Monaten verurteilt.“32

Erst 1958 wurde am Institut für Lehrerbildung Templin Fritz F. wegen angeblicher Boykotthetze verhaftet. In den Vernehmungen wurden verschiedene Zeugen befragt, welche Äußerungen Fritz F. im Zusammenhang mit den Ereignissen des 17. Juni 1953 getätigt habe. Daraufhin gab ein Zeuge, der mit dem Beschuldigten 1953 das Krankenzimmer geteilt hatte, Folgendes aus dem Gedächtnis wieder:

„Ein neuer 17. Juni kommt bald und läuft anders aus, denn man ist schon wieder vom neuen Kurs abgekommen und geht im alten Trott weiter. Ein Glück, dass noch Westberlin da ist, das ist der Weg zur Freiheit, denn sonst wären wir ganz verloren. Wenn Westberlin nicht wäre, würden die Zuchthäuser bei uns gar nicht ausreichen und man könnte mit uns machen, was man will. Die Geschichte lehrt uns doch, dass wir uns befreien sollen. (…) Es fehlte beim 17. Juni nur an einer zielklaren Führung und wenn die Sowjetarmee nicht so brutal eingegriffen hätte, hätten wir schon die Freiheit.“33

Der 33jährige Fritz F. erhielt eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten.34

In den Unterlagen der BStU Neubrandenburg befindet sich auch ein „Bericht über die Situation in den Betrieben des Bezirkes Neubrandenburg nach der Provokation von Berlin“.35 Danach habe es lediglich im Kreisbauhof Neustrelitz, im Bahnwagen-Werk Pasewalk und beim Kreisbauhof Templin – Baustelle Vogelsang – größere Solidaritätserklärungen mit den streikenden Arbeitern in Berlin gegeben. So kam es auf der Templiner Baustelle Vogelsang, auf der 200 Bauarbeiter des Kreises Templin unter der Oberbauleitung der Bau-Union Potsdam arbeiteten, zu einem Streik unter den Losungen „Weg mit den Normen! 50 Prozent Preissenkung der HO! Und Freie Wahlen!“.36 Sogar einige „feindliche Elemente innerhalb der Gewerkschaften“ des Bezirkes würden „in Auswertung des 17. Juni ihr wahres Gesicht“ zeigen und sogar nicht davor zurückschrecken den Rücktritt der Regierung zu fordern. Andere Gewerkschaftsmitglieder, darunter insbesondere Ärzte, seien inzwischen aus der Gewerkschaft ausgetreten.37

Über die Verhältnisse im Altkreis Angermünde gibt ein Bericht der Bezirksbehörde der Volkspolizei vom 29. Juni 1953 Auskunft. Demnach habe es im Kreis Angermünde keine größeren Provokationen gegeben. Nur in der Stadt Angermünde hätten sich am 17. Juni zwischen 19 und 20 Uhr etwa 80 bis 100 Jugendliche vor der Kreisverwaltung randalierend versammelt, weil der Ausnahmezustand erklärt worden war. Sechs VP-Angehörigen sei es dann gelungen, durch „bloße Agitation“ die Ansammlung aufzulösen.38

Ein im Mai 1953 von Lieselotte Perich an ihre im Westen lebende Schwägerin gerichteter Brief gestattet genauere Einblicke in die Stimmungslage der Angermünder Bevölkerung. Sie schreibt hier u. a.:

„Wir in der Zone leben jetzt wirklich beinahe wie im Gefängnis und der Zeitpunkt wird nicht mehr fern sein, wo der Käfig ganz geschlossen wird, d.h. wo wir auch nicht mehr nach Berlin herein können. Der Druck wird von Tag zu Tag stärker, aber die Unzufriedenheit auch. Aber keiner kann es wagen, sich dagegen aufzulehnen, weil der Staat alle Machtmittel in der Hand hat und das Gesetz nur noch auf dem Papier steht. Ganz schlimm ist es auf dem Lande, wo zum Teil ganze Dörfer geflüchtet sind. Die Folge davon ist, dass das Land nicht genügend bearbeitet werden kann und dass die Lebensmittelknappheit, die schon jetzt katastrophal ist, im Laufe des Jahres noch viel schlimmer werden wird. Ihr könnt bestimmt glauben, dass all die vielen, vielen Menschen, die hier alles im Stich gelassen haben und nach dem Westen gegangen sind, nicht leichten Herzens gegangen sind. Wie viel Not und wie viel Bedrückung dahinter steht, kann nur der ermessen, der hier lebt und täglich mit ansehen muss, was sich um ihn herum alles ereignet. Wenn Du jetzt durch Angermünde gehen würdest, Du würdest es nicht wieder erkennen, kaum noch ein Privatgeschäft, alles ist HO oder Konsum. Die Inhaber flüchtig oder eingesperrt; nur ganz wenige sind dageblieben (…) B. hat sechs Jahre Zuchthaus bekommen wegen Kleinigkeiten; G., der die große Mühle hatte, drei Jahre wegen nichts; L., der das große Papiergeschäft hatte, sechs Jahre, ist aber kurz nach dem Urteil krank geworden und infolge mangelhafter Behandlung gestorben. Die ganze Familie R. ist weg, ebenso B's., D's. und viele, viele Angermünder Familien. (…) Nun zu dem Thema Lebensmittelkarten. Da kann ich Dir zur Beruhigung sagen, dass wir nicht zu denen gehören, die mit dem Entzug derselben bestraft sind, vorläufig noch nicht, denn zu der nächsten Kategorie, die dran kommt, werde ich auch gehören. Es hat nur die getroffen, die aus ihren Häusern ein Monatseinkommen von mehr als 400 Mark haben, und alle selbständigen Geschäftsleute mit Familienangehörigen, wenn auch ihr Betrieb ganz winzig klein ist, ferner Handwerksbetriebe mit mehr als fünf Angestellten, weil auch die zu den kapitalistischen Ausbeutern zählen. Für die Betroffenen ist das natürlich sehr schlimm, zumal es in der HO auch zu teuren Preisen überhaupt kein Fett zu kaufen gibt. (…) In anderer Beziehung haben wir in den letzten Wochen viele schwere Gewissenskonflikte durchgemacht, und zwar handelte es sich um die beiden Großen und ihre Zugehörigkeit zur Jungen Gemeinde. Schon vor Ostern hatte das Kesseltreiben gegen die Junge Gemeinde in der Schule begonnen. Nach den Ferien wurde es ganz schlimm, und die Kinder sahen sich nach langen Diskussionen eines Tages vor die Frage gestellt, eine Resolution zu unterschreiben, in welcher die Junge Gemeinde zu einer verbrecherischen Jugendorganisation erklärt wurde, welche Spionage- und Agententätigkeit ausübt. In der Oberschule waren Kinder, die an den Zusammenkünften der Jungen Gemeinde regelmäßig und gern teilgenommen hatten. Leider war der Druck von Seiten der FDJ so stark, dass die meisten Kinder nicht standhielten und die Resolution sofort unterschrieben (ᾀ¦) Jeden Tag brachte die Zeitung seitenlange Berichte über das verräterische Treiben der Jungen Gemeinde.“39

Ein Bauer aus Biesenbrow (Kreis Angermünde) forderte nach dem 17. Juni 1953 „(…) die Regierung (gehört) ins Zuchthaus. Ich verlange endlich freie Wahlen, wie sie in Westdeutschland durchgeführt werden und nicht solche Betrugswahlen wie in der Deutschen Demokratischen Republik.“40

Ein großer Teil der Bevölkerung hatte jedoch nach dem 17. Juni 1953 resigniert und sich ins Privatleben zurückgezogen. Andere suchten den Ausweg in der Flucht. So gab es u. a. in der ersten Jahreshälfte 1954 insgesamt 162 Flüchtlinge im Kreis Prenzlau. Darunter waren 29 Arbeiter, 15 Bauern, 21 Angestellte, 44 Hausfrauen, 10 Rentner und 1 Gewerbetreibender. Von diesen 162 Flüchtlingen kamen 45 aus der Stadt Prenzlau und 117 aus den örtlichen Gemeinden.41

Nach dem Stand der aktuellen Forschung gab es mindestens 55 Todesopfer.42 Allein vom Ausbruch des Volksaufstandes bis zum 6. Juli 1953 wurden in der DDR etwa 10.000 Personen verhaftet. Bis Ende 1954 sind dann etwa 1.500 Haftstrafen und mindestens sieben Todesurteile von sowjetischen Militärgerichten und DDR-Gerichten verhängt worden.43

Nur wenige DDR-Bürger wagten nach der blutigen Niederschlagung des Volksaufstandes Aktionen gegen die Partei- und Staatsführung der DDR. Einer von ihnen war Werner Alfred Flach44, der sich, wie viele andere auch, einen anderen Ausgang des 17. Juni gewünscht hatte. Die von ihm eingeleiteten mutigen Aktionen bezahlte er 1956 mit seinem Leben. Heute erinnert ein Gedenkstein im Plenarsaal der Kreisverwaltung an seinen Widerstand.

Bei einer Rückschau auf den 17. Juni 1953 drängen sich zwangsläufig die Bilder der friedlichen Revolution45 von 1989 auf, wo glücklicher Weise keine Panzer zum Einsatz kamen. Mit Dankbarkeit und Ehrfurcht sollten wir die Erinnerung an den Widerstand in der DDR wachhalten, auch als Mahnung, dass sich Diktaturen, welcher Art auch immer, nicht wiederholen dürfen.

 

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