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Rede des 2. BG auf der Gedenkveranstaltung 17. Juni 2018

Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie hörten gerade einen Ausschnitt aus der 5. Sinfonie von D. Schostakowitsch, einem der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Er schrieb dem Regime von Josef Stalin Hymnen und blieb doch gleichzeitig zeitlebens auf Distanz zum stalinistischen System, welches ihn drangsalierte und jahrelang in Todesfurcht hielt. Schostakowitsch Werk, wenn man es studiert und begreift, ist geeignet die Geschichte Russlands zwischen 1930 und 1970 nachzuerleben. Es ist geradezu ein „apokalyptischer Soundtrack zum 20. Jahrhundert“

Ich werde nachher nochmals darauf zurückkommen.

Heute jährt sich nunmehr zum 65. Mal ein einmaliger historischer Tag für Deutschland: der Volksaufstand in der DDR am 17. Juni. Nicht einmal vier Jahre nach ihrer Gründung stand die DDR bereits wieder kurz vor ihrem Ende: eine knappe Lebensmittelversorgung, lange Schlangen vor den Geschäften und ständige Unterbrechungen der Stromversorgung machten die Menschen in der DDR unzufrieden. Die Verbitterung wuchs, als die DDR-Regierung Arbeitsnormen erhöhte, was einer Lohnkürzung gleichkam. Ausgerechnet die Bauarbeiter in der Ost-Berliner Stalinallee, dem damaligen Prestigeobjekt der SED, begannen zu streiken. Binnen Stunden griff der Aufstand auf mehr als 700 Orte über, weitete sich zum Generalstreik und schließlich zum Volksaufstand aus. Nur mit Hilfe russischer Panzer gelang es dem SED-Regime, den Aufstand blutig niederzuschlagen – und damit die Rufe nach freien Wahlen und einer Wiedervereinigung Deutschlands zu ersticken.

Insbesondere im Gefolge der 2. Parteikonferenz der SED 1952, die in der DDR den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus in der DDR“ einläuten sollte, gab es auch im damaligen Kreis Prenzlau zwischen August 1952 und Anfang 1953 zahlreiche politisch motivierte Gerichtsverfahren gegen Bürger aus allen Schichten, die häufig mit dem Label „Wirtschaftskriminalität“ versehen wurden. Herr Jürgen Theil hat diese Auswüchse sehr detailreich in einem von ihm gehaltenen Festvortrag vor genau 5 Jahren im Kleinkunstsaal des Dominikanerklosters geschildert.

Am 28. Februar 1953 erlitt der sowjetische Diktator Josef Stalin nach einem nächtlichen Trinkgelage einen Schlaganfall. Während die Ärzte, aus schierer Angst zu spät erst informiert, um das Leben des Diktators ringen, kämpften seine Höflinge schon um die Nachfolge.

"Und aller Ruhm der Welt wird Stalin heißen! Lasst uns den Ewig-Lebenden lobpreisen!"

Mit diesen überschwänglichen pathetischen Sätzen verabschiedete sich im März 1953 der DDR-Dichter und SED-Kulturpolitiker Johannes R. Becher im "Neuen Deutschland" von Stalin. Der Diktator, der Millionen Menschen mit seiner Terror-Herrschaft den Tod gebracht hat, wird noch einmal von Becher als Ewig-Lebender gepriesen.

Stalins Unsterblichkeit war in den Jahren seiner Herrschaft in einem solchen Ausmaß beschworen worden, dass sein Tod tatsächlich unvorstellbar schien. Er hatte sich selbst so sehr als gottgleicher Alleswisser, Führer und Übervater inszeniert, dass eine Zukunft ohne ihn undenkbar war. Die Umstände von Stalins Tod waren jedoch das Gegenteil der brutal und perfekt durchorganisierten Herrschaft, in der nichts dem Zufall überlassen bleiben sollte. Stalins Sterben war so surreal und grotesk, wie man es sich gar nicht hätte ausdenken können. Am 5. März 1953 starb er letztendlich (wenn die Berichte stimmen).

Stalins Tod muss die damaligen SED-Verantwortlichen in eine große Unsicherheit über die Zukunft und hohe Frustration gestürzt haben. Das von Jürgen Theil in seinem damaligen Vortrag beschriebene, teilweise widersprüchliche Vorgehen des Staatsapparates gegen Bürger aus der Prenzlauer Region, die in die Geschehnisse des 17. Juni 1953 hier und in Berlin hineingezogen wurden, belegen das.

Im Gedenken an den Aufstand in der DDR erklärte die damalige Bundesrepublik Deutschland den 17. Juni als „Tag der deutschen Einheit“ zum gesetzlichen Feiertag. Schon am 4. August 1953 wurde ein entsprechendes Gesetz erlassen. Der 17. Juni soll an Menschen erinnern, die für ihre Rechte und Freiheit gekämpft und unter der Niederschlagung des Aufstandes gelitten haben. Nach dem aktuellen Stand der Forschung gab es wenigstens 44 Todesopfer. Vom 17. Juni bis Anfang Juli wurden etwa 10.000 Menschen verhaftet. Bis Ende 1954 sind dann 1.500 Haftstrafen und wenigstens 7 Todesurteile von sowjetischen Militärtribunalen und DDR-Gerichten verhängt worden.

Der Einigungsvertrag erklärte den 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit, zum staatlichen Feiertag, eigentlich ohne einen konkreten historischen Bezug. Der 17. Juni bekam den Status eines Gedenktages. Im Moment wird wieder die Frage lauter, ob er nicht doch wieder ein gesetzlicher Feiertag werden sollte und auch ich plädiere dafür: dieser damalige Volksaufstand gehört zu den prägendsten und bedeutendsten Ereignissen der jüngeren deutschen Nachkriegsgeschichte. Ohne ihn lassen sich die Geschehnisse in Deutschland der vergangenen 50-60 Jahren nicht erklären: die Fluchtbewegung in den Folgejahren, der Bau der Berliner Mauer mit den dort Erschossenen, die systematische Verfolgung Andersdenkender in der DDR, die friedliche Revolution 1989. Er ist auch zugleich eine ständige Mahnung an alle politischen Verantwortlichen, auch heute noch, dass man auf Dauer nicht gegen das Volk und seine Befindlichkeit regieren kann (und hier waren es nicht mal 8 Jahre seit 1945).

Dieser Platz, an dem wir uns heute versammelt haben, ist mittlerweile in vielfältiger Hinsicht ein „Denkmalplatz“. Er spiegelt wie in einem Brennglas die vielfältigen Auswirkungen der „großen deutschen“ Geschichte auf unsere Prenzlauer Region wider. Der Platz wurde 1921-1924 von einem preußischen Gartenarchitekten (Otto Kruepper) angelegt, um ein Denkmal für die gefallenen Soldaten des 1. Weltkrieges aufzunehmen. Dieses, für ein solches Denkmal etwas ungewöhnlich gestaltete, Monument von Fritz Klimbsch wurde von den Nationalsozialisten zwar ungern gesehen, blieb jedoch bis zu seiner Beseitigung Anfang der 1950er Jahre stehen. Später wurde ein Denkmal für die Verfolgten des Naziregimes errichtet, zweifellos eine wichtige Erinnerungsfunktion.

Hinzu kamen in den Folgejahren an der seeseitigen Mauer verschiedene Tafeln: den Vertriebenen des zweiten Weltkrieges gewidmet und zur Erinnerung an die Deutsche Einheit eine weitere Tafel. Umgezogen vom Grundstück Friedhofstrasse 4 die drei Tafeln, die den Opfern des Stalinismus gewidmet sind und insbesondere an jene erinnern sollen, die in den Folterkellern dieses Gebäudes Furchtbares erleben mussten.

Dies führt uns unvermittelt wieder zurück in die Mitte der 50er Jahre. Am 14. Februar 1956, knapp drei Jahre nach dem 17. Juni, begann der 20. Parteitag der KPdSU, es war der erste nach dem Tod Stalins. Als Nikita Chruschtschow am 25. Februar ausgewählte Delegierte des Parteitages zu einer geschlossenen Sondersitzung bat, waren die Nerven der Anwesenden zum Zerreißen gespannt. Journalisten hatten keinen Zutritt, jegliche Aufzeichnungen waren verboten, Tonbandmitschnitte nicht gestattet, Handys gab es noch nicht.

Chruschtschow stößt Stalin endgültig vom Thron: Stalin, der Tyrann, der Despot, der sich in einer unüberschaubaren Anzahl von Fällen als intolerant und brutal erwies und seine Macht missbrauchte. Mit detaillierten Schilderungen der Repressionen und Verhaftungen ging Chruschtschow auf die physische Liquidierung ganzer Kader und Gruppen unter Stalin ein. Er zeichnete ein finsteres Bild der stalinistischen Säuberungen, der ständig drohenden Verhaftung und Vernichtung durch den Diktator, der unberechenbar war und nach seinem eigenen Gutdünken herrschte. Aber er rückte nur mit einem Teil der Wahrheit heraus. Zum Schluss erklärte er sich selbst kurzerhand zum Opfer des Despoten. Doch war auch Chruschtschow eine Kreatur Stalins. Als Moskauer und ukrainischer Parteichef war er selbst an den Säuberungen beteiligt gewesen und hatte zahlreiche Erschießungen befehligt.

Nach der Rede herrschte lähmendes Entsetzen, die Anwesenden waren wie betäubt. Nur langsam fanden die Delegierten wieder zu sich. Nach seiner Rede wurde Chruschtschow ein Zettel heraufgereicht, auf dem geschrieben stand: „Was tatest Du, als Stalin diese Verbrechen beging?“ Chruschtschow las die Frage vor und sagte: „Ich bitte den Fragesteller aufzustehen“. Niemand rührte sich. „Das“, sagte Chruschtschow, „ist genau das, was ich getan habe, während Stalin an der Macht war.“

Und jetzt sind wir wieder bei Schostakowitsch und ich gestatte mir eine persönliche Reminiszenz: Mein Vater war 50 Jahre lang Musiker im Berliner Sinfonieorchester (Ostberlin). Einer der bedeutendsten Dirigenten dieses Orchesters war Kurt Sanderling. Er war Jude, wurde 1935 ausgebürgert, floh in die Sowjetunion, war Dirigent des Moskauer Rundfunks, später zweiter Chefdirigent der Leningrader Philharmoniker. Dort lernte er Schostakowitsch kennen und schätzte ihn hoch. Nach seiner Rückkehr 1960 in die DDR war es eines seiner Anliegen, das Werk Schostakowitsch in der DDR zu verbreiten. Ich erinnere mich noch gut, wie mein Vater einmal nach einer Orchesterprobe nach Hause kam und tiefbewegt von den Proben zu einem der Werke von Schostakowitsch erzählte. Dieses Werk war voller harter Akkorde und Sanderling hatte den Musikern erläutert, was Schostakowitsch damit ausdrücken wollte: ein harter Akkord – wieder ein Todesurteil von Stalin, ein harter Akkord – und wieder wurde jemand in den GULAG geschickt. Seitdem war mein Weltbild, und da meines Vaters, verändert!

Nachdem er (wieder einmal) bei Stalin in Ungnade gefallen war, schlief Schostakowitsch 1936 monatelang in seinen Kleidern, mit einem kleinen Koffer unter dem Bett in verschiedenen Verstecken; stets gegenwärtig, dass ihn der NKWD abholte. „Das Warten auf die Exekution ist eines der Themen, die mich ein Leben lang gemartert haben, viele Seiten meiner Musik sprechen davon!“ Ihn befielen Depressionen und Suizidgedanken, die ihn für Jahrzehnte begleiteten. „Was in der 5. vorgeht, sollte meiner Meinung nach klar sein. Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen…So als schlage man uns mit einem Knüppel und verlange dazu: Jubeln sollt ihr! Jubeln sollt ihr! Und der geschlagene Mensch erhebt sich, kann sich kaum auf den Beinen halten. Geht, marschiert, murmelt vor sich hin: Jubeln sollen wir, jubeln sollen wir. Man muss schon ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören.“

In der DDR gab es natürlich kein offizielles Gedenken an die Opfer des 17. Juni, die Geschehnisse sollten in Vergessenheit geraten. Voller Panik und Angst vor dem eigenen Volk zogen die politischen Elitekader der DDR von Berlin-Pankow ins abgeschirmte Wandlitz. Viele DDR-Bürger zogen sich hingegen resigniert ins Privatleben zurück oder flüchteten in den westlichen Teil Deutschlands. Zivilcourage war und blieb gefährlich.

Damit sind wir dann bei der bislang letzten Tafel an diesem Platz: Am 21. November 1986 wurde Manfred Mäder an der Berliner Mauer erschossen. Und ich zitiere im Weiteren aus der damaligen Rede von Jürgen Theil: „Manfred Mäder wurde 1948 in Prenzlau geboren. Nachdem er Ende der 70er Jahre erfolglos versucht hatte, über die CSSR in den Westen zu fliehen, wurde er zu einer Haftstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt, die er in Bautzen verbüßte. Nach seiner Haftentlassung konnte er seine Tätigkeit als Berufskraftfahrer nicht mehr ausüben. 1985 heiratete Mäder und zog zu seiner Frau und ihrem Kind nach Berlin-Treptow. Nur ein Jahr später stellte die Familie einen Ausreiseantrag. Da Mäder nicht die Hoffnung hatte, dass dieser Antrag genehmigt wird, plante er mit seinem Freund René Groß die Flucht, der eine spätere Familienzusammenführung münden sollte. Mit einem LKW Typ W 50 durchbrachen sie am 21. November 1986, um 5 Uhr, ein Grenztor in der Hinterlandsicherungsmauer und den Signalzaun, bevor das Fahrzeug am Sockel der Betonmauer zu West-Berlin zum Stehen kam. Die Grenzsoldaten beschossen das Fluchtfahrzeug mit Dauerfeuer von zwei Wachtürmen aus. Manfred Mäder gelang es noch, vom Dach des Fahrzeuges aus die Mauerkrone zu erreichen, bevor er aus etwa 15 Meter Entfernung im Oberschenkel getroffen wurde. Er fiel auf die Ostseite zurück, wo er anschließend verblutete. Sein Freund René Groß, der unter dem Fahrzeug Schutz gesucht hatte, wurde durch einen Kopfschuss getötet. Die Ehefrau von Manfred Mäder, der man im Dezember 1987 die Ausreise der DDR gestattete, musste sich schriftlich verpflichten, über die Todesumstände Stillschweigen zu wahren. Manfred Mäder wurde im engsten Kreis der Familie im Grab seiner Eltern beigesetzt.“

Da das Grab von Manfred Mäder 2010 eingeebnet wurde, entschloss sich 2011 die Prenzlauer Stadtverordnetenversammlung, hier, am Platz der Einheit, eine Gedenktafel für Manfred Mäder anbringen zu lassen. Auch in Berlin- Treptow erinnert heute eine Gedenktafel an Manfred Mäder und René Groß.

Sehr geehrte Damen und Herren,

100 Jahre nach dem Ende des 1. Weltkrieges, der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, 77 Jahre nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, 65 Jahre nach dem Volksaufstand am 17. Juni und 29 Jahre nach der friedlichen Revolution in Deutschland stellt sich die Frage: Kann es, insbesondere in den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, eine europäische Erzählung vom blutigsten Jahrhunderts in der europäischen Geschichte geben, eine miteinander geteilte Erinnerung, die unterschiedliche Erfahrungen nicht relativiert, nicht nivelliert, die Verantwortung nicht verdrängt, die keine wechselseitigen Rechnungen aufmacht, weil diese weder dem Leid der einzelnen Opfer noch der Schuld der Täter gerecht werden können?

Finden wir eine geeignete Form rechtsstaatlicher, demokratischer und humanitärer Zivilcourage, die aber zugleich flankiert und gestützt ist von einer wehrhaften und konsequenten Demokratie, damit unsere Werte nicht ausgenutzt, nicht ausgehöhlt und gar missbraucht werden?
Finden wir die Balance zwischen unseren historischen Wurzeln und Traditionen in Deutschland, auf die wir stolz sind und die wir auch nicht aufgeben wollen und der Aufnahme von kulturellen und ideellen Werten von Menschen, denen wir Einlaß in unser Land, Schutz und Versorgung bieten? Sind denn auch jene bereit, sich auf diese Balance und Ausgleich einzulassen?

Ich bedaure, dass ich Sie vermutlich mit mehr Fragen als Antworten zurücklasse. Aber schon deshalb sollte der 17. Juni mindestens ein Gedenktag, wenn nicht ein Feiertag bleiben. Gerade auch, weil er das Bewusstsein schärft, was Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Gerechtigkeit und Demokratie bedeuten.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und bitte Sie nun, je ein Gesteck niederzulegen und eine kurze Gedenkminute für die Opfer des Volksaufstandes und des Stalinismus einzulegen.

Dr. Andreas Heinrich, Zweiter Beigeordneter

 

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