Prenzlau (spz). Der 20. November steht bundesweit im Zeichen des Vorlesetages. Normalerweise wird dann an vielen Orten zum öffentlichen Vorlesen eingeladen. In Prenzlau hatte sich die Aktion in den zurückliegenden etabliert. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Und so entfällt das öffentliche Vorlesen. Auch für den „Lesezauber“, eines der ältesten Projekte der Bürgerstiftung Barnim Uckermark überhaupt. „Der ‚Lesezauber‘ ist eine Aktion, die sozusagen anstiftend wirken soll. Unser Ziel war es von Anfang an, dass nicht wir als Bürgerstiftung Veranstalter sein müssen, sondern die Idee des ‚Lesezaubers‘ gern kopiert und übernommen werden kann. Samt Namen und Logo“, sagt Katja Neels, die das Projektbüro Prenzlau der Bürgerstiftung leitet. In Prenzlau sei es vor gut zwölf Jahren die Stadtbibliothek im Dominikanerkloster gewesen, die die Projektidee aufgriff und seitdem eigene Angebote unter dem „Label“ des „Lesezaubers“ unterbreitet. Doch auch die Bürgerstiftung selbst ist mit ihren Vorleserinnen und Vorlesern noch immer unterwegs. „‘Gewesen‘ muss man sagen“, räumt Katja Neels aus. Denn das letzte öffentliche Vorlesen fand im März statt. „Damals hatten wir eine Live-Lesung in deutscher und russischer Sprache im Buchhaus Schulz“, blickt sie ein bisschen wehmütig zurück. „Schon damals entschieden sich einige, lieber doch nicht hinzugehen, zu viele Kontakte zu vermeiden. Gerade unsere älteren Vorleserinnen hielten und halten sich seitdem zurück. Verständlicherweise.“ Dabei war gerade das Vorjahr ein absolutes Vorlesejahr. Wöchentlich gab es eine Vorleseaktion an den unterschiedlichsten Orten. „Bei der Feuerwehr, bei der Polizei, im Büro des Bürgermeisters und an vielen Stellen mehr. Und wir hatten auch schon zahlreiche neue Mitveranstalter ins Boot geholt. Doch dann kam Corona dazwischen.“ Natürlich habe auch die Bürgerstiftung versucht, ihr Angebot ins Netz zu verlagern. „Wobei das natürlich eine ganze andere Situation und damit auch Stimmung ist.“ Doch hier käme ein ganz neuer Aspekt erschwerend hinzu: „Man muss genau prüfen, was urheberrechtlich überhaupt erlaubt ist.“ Also verlegte man sich aufs Vorlesen von Märchen der Gebrüder Grimm. „Da zumindest wissen wir, dass es gestattet ist.“ Doch der Weisheit letzter Schluss sei dies nicht. „Auf diesem Weg erreichen wir die Kinder schlechter. Vor allem die, die wir sehr dringend erreichen möchten“, macht Neels auf ein grundsätzliches Problem aufmerksam. Denn das Vorlesen ist längst nicht so allgegenwärtig in den Familien, wie man es sich vielleicht wünscht. Das wird durch die aktuelle Vorlesestudie 2020 belegt. Danach lesen rund 32 Prozent der Eltern in Deutschland selten oder nie vor. Eine Zahl, die seit Jahren schon ziemlich konstant ist. Erstmals jedoch geht die Vorlesestudie, die übrigens – so wie der jährlich stattfindende Vorlesetag am 20. November – ein gemeinsames Projekt von Stiftung Lesen, DIE ZEIT und Deutsche Bahn Stiftung ist, bei der Fragestellung weiter. So fragte man 2020 insgesamt 528 Eltern, von denen man wusste, dass sie maximal einmal in der Woche vorlesen, warum sie selten vorlesen. Ein Argument: „Wenig Zeit“. Häufig fehle es, so ist in der Auswertung der Studie auf der Internetseite www.vorlesetag.de nachzulesen, an der Zeit und der Bereitschaft zum Vorlesen. Die Hälfte der Eltern gebe an, dass es im Haushalt anderes zu tun gibt und sie zu erschöpft zum Vorlesen sind. Zudem würden 48 Prozent der befragten Eltern denken, dass ihren Kindern woanders schon genug vorgelesen werde. Vor allem in der Kita.“ Ein weiterer Grund sei der fehlende Vorlesestoff. 68 Prozent der befragten Haushalte geben an, dass ihre Kinder maximal zehn Bücher haben. Gleichzeitig fänden es 57 Prozent der befragten Eltern gut, bekämen ihre Kinder regelmäßig Bücher geschenkt. Laut der Studie würden Buchgeschenke die Wahrscheinlichkeit des Vorlesens durch die Eltern erhöhen. Jürgen Kornmann, Leiter Marketing & PR der Deutschen Bahn AG und Beauftragter Leseförderung der Deutsche Bahn Stiftung meint dazu: „Vorlesestoff sollte im Alltag überall verfügbar sein – attraktiv, unkompliziert, niedrigeschwellig und in möglichst vielen Sprachen. Das erhöht zudem die Wahrscheinlichkeit, dass die Eltern häufiger vorlesen.“
Und dann ist da laut Studie noch der „Spaßfaktor“. 49 Prozent der Eltern mache demnach Vorlesen keinen Spaß. Abgesehen davon, dass manche von ihnen das Gefühl haben schauspielern und ihre Kinder zum geduldigen Zuhören zwingen zu müssen, sagen 44 Prozent der befragten Eltern, dass ihre Kinder zu unruhig seien und 31 Prozent meinen, dass ihr Kind überhaupt nicht vorgelesen bekommen mag.
Damit macht die Studie vor allem deutlich, dass es in Sachen Vorlesen nicht nur um die Kinder, sondern auch um deren Eltern geht. „Wenn wir unsere Vorleseaktionen beispielsweise auf Spielplätzen gemacht haben, kamen auch Eltern dazu und wir mit ihnen ins Gespräch“, beschreibt Katja Neels eine ganz niedrigschwellige Möglichkeit, die Eltern anzusprechen. „Das Vorlesen beinhaltet so viele wichtige Aspekte“, sagt die Mutter dreier Kinder. „Es hilft Sprache und Sprachfähigkeit zu entwickeln, trägt zum Verstehen von Worten und Zusammenhängen bei, fördert Kommunikation, regt die Fantasie an, ist eine wunderbare Möglichkeit, in andere Leben und Alltage einzutauchen, sich wiederzufinden oder andere verstehen zu lernen, ein Gefühl für Lebenssituationen zu bekommen und letztlich auch die Lust zu wecken, selbst lesen zu können.“ Dass die vor allem von den Kindern ausgelebt wird, die zu Hause vorgelesen bekamen oder bekommen, bestätigt Annett Fistler, Leiterin des Hortes der Grabow-Grundschule. Sobald die Mädchen und Jungen lesen können, haben viele von ihnen große Freude daran, sich in der horteigenen Bibliothek zu bedienen, nach einer ruhigen Ecke zu suchen und dann zu lesen.
Katja Neels führt noch einen weiteren Aspekt an: die Konzentrationsfähigkeit. „Die Kinder wachsen heute in einer medial dominierten Welt auf. Bild und Ton sind quasi immer präsent. Es fällt ihnen zunehmend schwerer, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Beim Vorlesen geschieht das automatisch. Sie hören zu. Und das noch dazu nicht nur einer Stimme, sondern einer echten Person.“ Deshalb hoffe sie, dass es nicht nur bald wieder möglich ist, den „Lesezauber“ live fortzusetzen, sondern zudem noch mehr Partner dafür zu gewinnen. „So wie die Stadtbibliothek“, macht sie an einem besonders guten Beispiel deutlich. Denn hier findet normalerweise einmal im Monat, immer am ersten Dienstag, der „Lesezauber“ statt. „Hinzu kommen weitere Lesungen beispielsweise im Advent oder zum bundesweiten Vorlesetag“, sagt Bibliotheksleiterin Katrin Kaesler. Über die ganzen Jahre hinweg wusste sie rund 15 ehrenamtliche Vorleserinnen und Vorleser an ihrer Seite. Heute sind nur noch zwei von ihnen aktiv. „Manchmal improvisieren wir beim ‚Lesezauber‘ auch. Dann lesen Mitarbeiterinnen der Stadtbibliothek vor. Wir hatten es aber auch schon, dass Muttis, die ihre Kinder begleiteten, vorgelesen haben. Oder es kamen Gäste zum Vorlesen. Beispielsweise der Bürgermeister.“ In diesem Jahr musste das zum Vorlesetag, aber auch an vielen ersten Dienstagen aufgrund der Corona-Pandemie ausfallen. Das ist umso bedauerlicher, als dass Katrin Kaesler bereits auf ein Stammpublikum verweisen kann. „Manche Kinder kommen lange bevor sie lesen können das erste Mal zu uns und sind noch als Zweitklässler dabei.“ Sie hofft, dass die ausgefallenen Vorlesestunden die schöne Tradition nicht ganz in Vergessenheit geraten lassen. Zumal es oftmals gar nicht nur um das Vorlesen allein geht. „Wir verknüpfen es gern mit anderen Aktivitäten. Dann wird gesungen, gemalt, gebastelt, aber eben immer auch vorgelesen.“ Ebenso wie Katja Neels wünscht sich Katrin Kaesler, dass noch viel mehr vorgelesen wird. Und vor allem: dass Eltern, Großeltern und ältere Geschwister schon die Jüngsten an die Sprache, an Bücher heranführen. Möglichkeiten, an Lesestoff heranzukommen, gebe es genug, wie Kaesler betont. Für die Kinder, die in Prenzlau am „Lesezauber“ teilnehmen, gibt es besondere Motivation: den Lesepass. Sind sie fünfmal dabei, dürfen sie sich ein Buch aussuchen und mit nach Hause nehmen. „Für diese Aktion suchen wir übrigens noch Sponsoren“, wirbt sie.
Doch zurück zum Vorlesetag: Der kann in diesem Jahr nicht wie geplant stattfinden. „Wir verlegen ihn ins Netz“, sagt Katrin Kaesler und macht neugierig auf die Geschichten, die unter anderem der Bürgermeister oder der Erste Beigeordnete vorlesen. Auch bei der Bürgerstiftung will man sich für die Aktion und darüber hinaus etwas einfallen lassen. Denn Vorlesetag, darin sind sich beide einig, sollte jeden Tag sein.
Frau K. Kaesler
Dominikanerkloster Prenzlau / Stadtbibliothek
SGL Stadtbibliothek